Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte.

Theater Erfurt inszeniert moderne Kammeroper von Michel Wyman in experimentellen Bühnenbild.

Licht ändert permanent die Zuschauerperspektive: Gregor Loebel und Marisca Mulder in „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“. Foto: Lutz Edelhoff

Erfurt. Der Opernfreund fühlt sich in einen Teppichladen versetzt. Oder ist das ein großes weich gemustertes Wohnzimmer, zu dem Bühne und Zuschauerraum, die ihre Plätze getauscht haben, verschmelzen? Rechterhand fährt eine Lichtorgel auf und ab, die Teppiche auf dem Boden und an den Wänden beginnen zu flimmern. Und die Darsteller erst! Einheitlich von oben bis unten eierschalenfarben gekleidet und ebenso geschminkt, heben sich die Drei – zwei Männer und eine Frau – nur wenig voneinander ab; man erkennt sie an ihren Stimmen!

 

Griff nach der Brille und prüfender Blick ins Programmheft: „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ – die Buchstaben sind klar und an der richtigen Stelle, der Sehsinn scheint also nicht gestört. 

 

Die Irritation, für die das Erfurter Ausstatterteam Hank Irwin Kittel (Bühne) und Mila van Daag (Kostüme) verantwortlich zeichnet, ist gewollt und passt blendend zu der experimentellen Kammeroper, die Michael Nyman 1986 nach Texten des britischen Neurologen Oliver Sacks geschrieben hat. Am Freitagabend hatte eine Neuinszenierung von Markus Weckesser im Studiotheater der Landeshauptstadt Premiere.

Erzählt wird der seltsame Fall des Sängers und Gesangslehrers Dr. P., der an visueller Agnosie leidet, einer Art Geistesblindheit. Zwar nimmt er Farben und Formen wahr, kann jedoch nichts Ganzheitliches mehr erkennen, so dass er das Gesicht seiner Frau für seinen Hut hält. Glücklicherweise sind die musikalischen Fähigkeiten noch vorhanden. Mit ihnen versucht Dr. P. sein Handicap zu überspielen, doch die besorgte Frau schleppt ihn zum Arzt, der ihn einigen Tests unterzieht, ehe er die Di­agnose stellt. Um ganz sicher zu gehen, besucht er ihn auch noch in seiner häuslichen Umgebung und erlebt, wie sich P. anhand von Schumann-Melodien geschickt durch den Alltag hangelt. „Was hilft nun?“ fragt bang mit Baritonstimme der Patient, und der Arzt-Tenor erwidert im Brustton tiefster Überzeugung: „Musik! Musik! Musik!“

 

Das kommt in der Opernwelt sicher nicht allzu häufig vor, dass eine Krankenakte vertont wird. Um so überraschender ist, wie die relativ statisch erzählte Geschichte – neben Christopher Rawlence und Michael Morris schrieb auch Sachs am Libretto mit – musikalisch unter die Haut geht. Einem Klangteppich gleich „stülpt“ sich die Partitur über den Hörer, der sich das, was er nicht sieht, aus Tönen und Stimmen selbst im Kopf zusammensetzen kann. Sechs Mitglieder des Philharmonischen Orchesters Erfurt spielen unter der Leitung von Peter Leipold quasi in Hausmusikformation. 

 

Michael Nyman, das ist eine reizvolle Mischung aus Klassik, Pop und Avantgarde, die einen enormen Drive und Sog entwickeln und das Publikum im Patientendrama mitzureißen und tief in die Seele des „kranken“ Helden hineinzuziehen vermag. Da wurden neben Alltagsgeräuschen auch Romantik-Zitate mit eingewoben, und beim Hausbesuch des Arztes verleugnet Dr. P. seinen Zustand nicht länger, sondern interpretiert, von Yuki Nishiobegleitet, kraftvoll, beinahe trotzig Robert Schumanns „Ich grolle nicht / und wenn das Herz auch bricht“.

 

Gregor Loebel lehnt sich als Dr. P. gegen sein Schicksal auf und beweist Humor, indem er sich auch beim Baden, Anziehen und Essen Schumann-Lieder vorsummt. So erkennt P. das, was er nicht mehr sieht, aus dem musikalischen Gedächtnis. Hörbilder statt Körperbilder.

 

Man denkt an Demenz, auch wenn die Krankheit zur Entstehungszeit der Oper noch nicht im allgemeinen Bewusstsein war. Die Leichtigkeit, mit der die Figuren agieren, verhilft dem Minimalwerk zu erstaunlicher Wirkung. Da scheut der korpulente Patient die verordneten Leibesübungen nicht. Als Dr. P. merkt, dass er seine Frau nicht erkannt hat, schmettert er entschuldigend: „Hab’ meinen Hut, hab‘ meinen Hut – April, April!“ Das hat etwas Komödiantisches, ohne dass die Figur der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Im Gegenteil, der „Geistesblinde“ entpuppt sich als ein echter Charakter, während Thomas Paul als diagnostizierender Arzt und Erzähler und die Sopranistin Marisca Mulder als besorgte Mrs. P. dem Typhaften ihrer Rollen nicht entrinnen können, was dem vollen Dreiklang der Stimmen aber keinen Abbruch tut.

 

„Mehr Cage als Schumann“, erklärt der Patient in Anspielung auf den amerikanischen Komponisten John Cage, der, um die Sinne der Zuschauer zu sensibilisieren, auch mal ein Spiegelei auf der Bühne braten ließ. In Erfurt duftet frisch gebrühter Kaffee, und dort wird auch mal Rock‘n‘Roll getanzt. Musik als Lebensinhalt und Lebenshalt – das ist letztlich ein starker poetischer Impuls, der aus Nymans Kammeroper tönt. „Wenn die Musik aufhört, dann tut er es auch“, warnt der Neurologe mit Blick auf den Mann, der mit den Ohren sieht. Nach und nach steigen am Ende die Instrumente aus. Das Piano setzt trostvoll den Schlussakkord.

 

Frank Quilitzsch 25.01.16 TLZ

Versuchskaninchen und Teppichtarn...

aus dem Stück: "Nur leere Gesichter, erstarrt, ohne Kenntlichkeit.

Niemand schaut heraus. Nichts Menschliches drin. Wenn die typischen Kenntnisse fehlen..."

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte.

Theater Erfurt 

Premiere: 22.1.2016

Regie: Markus Weckesser

Bühne: Hank Irwin Kittel

Kostüme: Mila van Daag